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Franz-Marc-Gymnasium

Zeitzeugengespräch

Veröffentlicht am 26. April 2017

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Zeitzeuge Jürgen Sonntag berichtet über das Projekt „Tunnel 57“

Am 28.4.2017 besuchte Herr Sonntag unsere Schule, um von seinen Erfahrungen als Fluchthelfer für Fluchtwillige aus der DDR zu berichten. Zusammen mit 23 weiteren Studenten verhalf er 1964 mithilfe eines selbst gegrabenen Tunnels DDR-Bürgern zur Flucht in den Westen. Da 57 Personen die Flucht durch diesen Tunnel gelang, wurde er später „Tunnel 57“ genannt. Doch davor musste der Tunnel in Berlin erst einmal gebaut werden. Dies dauerte 6 Monate lang und war sehr aufwendig, da niemand, nicht einmal Familienmitglieder oder enge Freunde, etwas davon mitbekommen durften. Herr Sonntag berichtete, dass sich die Studenten immer für 14 Tage in der verlassenen Backstube, Bernauer Straße 97, in Westberlin aufhielten und sich in dieser Zeit von Dosennahrung ernährten, die das Ehepaar, dem die Bäckerei gehörte, besorgte.

Ziel des Tunnels war ursprünglich ein Keller in Ostberlin, doch durch einen glücklichen Zufall endete er zuletzt in einer Außentoilette im Hof der Strelitzer Straße 55. Er war am Ende 145 Meter lang und lag in 12 Metern Tiefe. Aufgrund seiner Länge musste man jedoch den Tunnel auch mit zusätzlichem Sauerstoff  und Licht versorgen. Zum Abtransport verwendete man Schubkarren und über einen Flaschenzug gelangte man wieder an die Oberfläche.

Herr Sonntag erzählte des Weiteren, dass er dafür zuständig war die fluchtwilligen Familien zu kontaktieren. Dazu holte er sich einen Passierschein, um sich in Ostberlin aufhalten zu dürfen, mit dem Vorwand Bekannte zu besuchen. Seine Motivation für die Teilnahme am Projekt waren der Reiz ein Abenteuer zu erleben, den Menschen zu helfen und ein politisches Zeichen zu setzen, indem man Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Am 3. und 4. Oktober schafften es dann 57 Personen zu fliehen und es wurden in der Nacht zwischen dem 4. und 5.10. keine weiteren Flüchtlinge erwartet. Dennoch meldeten sich noch zwei Personen gegen Mitternacht, die das Codewort „Tokio“ nicht kannten. Da manche Personen aber sowieso das Passwort vergaßen, wurden die Fluchthelfer nicht misstrauisch und warteten ab, als die Fluchtwilligen ankündigten einen Freund von der nächsten Straßenecke nachzuholen. Jedoch kamen sie mit Grenzsoldaten zurück und die Fluchthelfer flohen. Dabei wurde der Soldat Egon Schultz versehentlich von seinen eigenen Leuten erschossen. Jedoch wurde die Schuld einem der Fluchthelfer zugewiesen und die Wahrheit wurde erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands aufgedeckt.

Im Jahr 2012 wurde Herr Sonntag schließlich mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und hat seit dem darauffolgenden Jahr bereits viermal unsere Schule besucht. Er will den Schülern nahebringen, wie wichtig Demokratie und die Europäische Union sind, indem er an das Zusammenprallen von freiem Westen und kommunistischem Osten mit seinen Zwängen erinnert.

Maja Wohlfahrt, 10c

Über den Vortrag berichtet die Süddeutsche Zeitung am 26.04.2017:

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